Koren-Loeb, Tzvia:
Das Memorbuch zu Frankfurt am Main : Erschließung und Kommentierung ausgewählter Themenkreise
Duisburg, Essen, 2008
2008DissertationOA Platin
Allgemeine u. vergleichende Sprach- und LiteraturwissenschaftenFakultät für Geisteswissenschaften
Titel in Deutsch:
Das Memorbuch zu Frankfurt am Main : Erschließung und Kommentierung ausgewählter Themenkreise
Autor*in:
Koren-Loeb, Tzvia
Akademische Betreuung:
Brocke, MichaelUDE
LSF ID
629
Sonstiges
der Hochschule zugeordnete*r Autor*in
Erscheinungsort:
Duisburg, Essen
Erscheinungsjahr:
2008
Open Access?:
OA Platin
Umfang:
mehrbändig, verschiedene Zählungen
DuEPublico 2 ID
Signatur der UB:
Notiz:
Dissertation, Universität Duisburg-Essen, 2007
Sprache des Textes:
Deutsch

Abstract:

Diese umfangreiche Dissertation über das Memorbuch zu Frankfurt am Main [FM] erfasst fast alle Lebensbereiche frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Jüdinnen und Juden. Memorbücher sind noch Stiefkinder der Forschung, wenngleich „memoria” seit Jahrzehnten auch judaistisch zu einem zentralen Thema geworden ist. Memorbücher sind dennoch vernachlässigt hauptsächlich weil sie dem aschkenasisch-mitteleuropäischen bzw. dem deutschsprachigen kulturellen Raum gehören. Ihr genealogischer Wert ist deswegen begrentzt auf einen bestimmten Ort und für eine bestimmte Gemeinde. Memorbücher sind Unikate, in Hebräisch geschriebenen Handschriften, die Namen von verstorbenen Mitgliedern der Gemeinde enthalten, stets in der Synagoge aufbewahrt und zweimal im Jahr zur (Teil)verlesung kommend. Ihre Zeit läuft für die meisten Gemeinden im mittleren und späten 19. Jahrhundert ab. Der Begriff „Memorbuch” bezeichnet heutzutage auch Gedenkbücher für die Schoa-Opfer und Forschungen von jüdischen Friedhöfen. Das FM ist eins der umfangreichsten und kostbaren jener nicht vielen vor der Vernichtung – insbesondere des November 1938 – geretteten Handschriften der synagogal-liturgischen Gattung. Es befindet heute an der Hebräischen Universität in Jerusalem, enthält 6104 Namen von Verstorbenen, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main am Anfang der frühen Neuzeit waren, und viele andere Daten über den Zeitraum von ca. 300 Jahren auf 1073 pergamenten Seite. Seine Einträge sind nicht chronologisch und enthalten nicht alle Namen der Mitglieder der Gemeinde, ähnlich dem Friedhof, da man für die Eintragung ins Memorbuch in der Regel 21 Gulden bezahlen sollte. Um diese Summe zu bezahlen musste man in Frankfurt mindestens wohlhabend sein. Das erste FM ging im Jahre 1614 verloren. Das zweite FM wurde wahrscheinlich am 14.01.1711 verbrannt. Das dritte FM wurde nach der Listen der Beerdigungsgesellschaft der Jahren 1628-1711 verfasst und teilweise ergänzt. Seit 1711 erwähnt das FM regelmässig Namen von Verstorbenen bis zum Jahre 1907. Ziel der Arbeit war es, ausgewählte Themenkreise aus dem FM zu erschließen und sie nach bestimmten Kriterien zu kommentieren, um das Memorbuch zum ersten Mal als ein wissenschaftliches Werk mit seiner eigenen Mentalität zu bearbeiten. Die Methode der Forschung entsprach verschiedenen Stufen, die voneinander abhängen und sich auseinander entwickeln. Die erste technische Stufe der Erforschung des Memorbuches enthielt die Entzifferung der Handschrift und die Erbauung der computerisierten Datenbanken. Diese technische Methode hat folglich die These hervorgerufen, dass das FM Wesentliches über das „Kollektiv”, wie Wiederholungen und „Standards”, Tradition und allgemeine Mentalität lehrt; und es beschreibt das „Individuum” durch Ausnahmen und Erneuerungen. Der Vergleich der verschiedenen Datenbanken mit der relevanten Literatur-Quellen hat bewiesen, dass Memorbücher eine bestimmte eindeutige Rolle in der Forschung der Juden-Geschichte in Aschkenas der Frühen Neuzeit spielen. Die Ergebnisse der Forschung haben bewiesen, dass man auch das Memorbuch mit Hilfe von weiteren vergleichbaren Quellen (da es keine absolute Quelle gibt) als eine Quelle für die Forschung der Geschichte benutzen darf und kann. Das FM enthält meist positive Auskunft von Lobpreisung über Verstorbenen, eine Übertreibung ihrer positiven Charakter-Eigenschaften und die Beschreibung ihrer erwünschten ideellen bzw. idealen Charakter-Eigenschaften. Es ignoriert Streiten und Kämpfe in der Gemeinde. Im FM gibt es keine Einträge für Kinder, Arme oder Verbrecher, die in dieser Gesellschaft lebten. Auf die Auskunft über Kinder, Arme und Verbrecher in Frankfurt muss man aus den Informationen, die man zwischen den Zeilen in anderen Einträgen liest, schließen. Man erhält somit durch das Frankfurter Memorbuch einen direkten und indirekten Einblick in alle Schichten der Frankfurter jüdischen Bevölkerung vom 17. bis zum 20. Jh.: Männer, Frauen, Kinder, Waisen, Arme, Wohlhabende, Gelehrte, Diener der Gemeinde, Leidende, Invalide, jung und alt Verstorbene und deren christliche Nachbarn. Die zahlreiche Beispiele für stilistisch-sprachliche Besonderheiten der Einträge, wie z.B. Akrosticha und Gematria, beweisen wie gut die Schreiber des FM sich in der hebräischen Literatur bzw. in der heiligen jüdischen Literatur auskannten. Die liturgische Gebetssammlung und das Martyrologium des FM ist relativ knapp und eingeschränkt, denn es beim FM um die Teilabschrift und Neuaufnahme eines verloren gegangenen älteren Memorbuches handelt. Der detaillierte Vergleich der Ideale und Werte von Frauen und Männer nach dem FM enthält das Studium von Torah (und Derekh Erez), Talmud, Gmara, Ethik (Mussar)-Literatur und allgemeinen Fächer (wie z.B. Musik, Sprachen, Malen), Gebet und Gottesfurcht, Wohltätigkeit und heimliches Almosengeben, Handel, Gastfreundlichkeit, Kabbalah und Mizwot (halakhische Gebote). Die Rolle der Frauen in Frankfurt in der Frühen Neuzeit war innerhalb des Hauses - als Zentrum der Familie - und in der Gesellschaft, in der sie lebten, bei Wohltätigkeits-Institutionen und beim Handel sehr bedeutend. Viele von ihnen kombinierten mit Erfolg das Familienleben mit der harten Berufswelt und dem Torah-Studium. Innerhalb des Hauses funktionierte die Frau als Zentrum des Hauses. Als Tochter sollte sie ihre Eltern ehren. Als eine Ehefrau sollte sie ihren Ehemann ehren, vergnügen und ihm bei seinem Studium oder bei seinem Beruf helfen. Sie sollte sehr häufig entweder ihren Ehemann unterstützen, um ihm dabei zu helfen, Zeit für sein Torah-Studium zu finden, oder ihre Waisen-Kinder unterstützen, falls ihr Ehemann gestorben war. Schwangere Frauen kamen manchmal ums Leben bei der Geburt ihres Kindes wegen Verwicklungen, die mit Mangel an Hygiene bzw. mit der Gesundheit der Gebärenden oder der Gesundheit ihres Babys zu tun hatten. Als Mutter und Großmutter sollte sie ihre Kinder und Enkel anleiten und erziehen. Die ideale Frau sollte bescheiden sein und zu Hause bleiben, aber zu Hause als eine tüchtige Frau (Eschet Khajil) ihre Rolle erfüllen. Darüber hinaus gab es auch verwitwete und geschiedene jüdische Frauen in Frankfurt dieser Zeiten. Das FM erwähnt einige Frauen, die Kenntnisse über das Judentum und in anderen allgemeinen Feldern hatten. Sie kannten auch die Torah und religiöse Literatur, die die Bibel erklärt und erforscht hat, nämlich Gmara, Talmud, Mussar (Ethik) und Bibel-Exegese. Es gab eine besondere hohe Zahl von Frauen, die sich mit den Psalmen auskannten, wahrscheinlich weil sie die Psalmen in der Synagoge oft rezitierten. Währenddessen gab es auch viele chassidische und fromme Frankfurter jüdische Frauen, die Zeit für seelische bzw. körperliche Askese durch Fasten, Gebete und Genügsamkeit mit wenigen Lebensmitteln und für Frömmigkeit in ihren hektischen alltäglichen Lebens-Beschäftigungen fanden. Einige Frauen kannten auch fremde Sprachen, konnten Musik spielen oder malen. Die meisten dieser gebildeten Frauen lebten (und starben) in Frankfurt im 18. Jh. Viele Frankfurter jüdische Frauen beschäftigten sich mit Handel wegen des Charakters der Stadt Frankfurt als Messe-Stadt. Solche Frauen haben entweder ihrem Ehemann bei seinem Beruf als Händler geholfen oder weil sie als Witwen weiter ihre Familie ernähren und Geld verdienen mussten. Wohlhabende Frauen haben die Armen und die Torah-Gelehrten entweder privat oder als Mitglieder in Gesellschaften der Wohltätigkeit unterstützt. Die Mitgliedschaft bei diesen Gesellschaften erlaubte den Frauen nicht nur, zu Hause zu bleiben, sondern ihre gesellschaftlichen Beziehungen auch weiter außerhalb des Hauses zu entwickeln. Die Vielzahl der Erwähnungen von Torahgelehrte unterstützenden Frauen von der zweiten Hälfte des 18. Jh. an hängt zusammen mit dem Konservatismus der Gemeindebeamten und damit der „Schreiber” des FM, welche sich gegen Aufklärung, Haskalah, und Reformbewegung wenden, indem sie althergebrachte Werte und Ideale, wie z.B. Bescheidenheit, Anständigkeit und guter Ruf besonders hervorheben. Außerdem bezeichnet das FM auch einige Frauen mit bestimmten Berufen zu Hause, in der Synagoge und außerhalb der Synagoge: Hausfrau, Schneiderin, Spinnerin und Vorbereiterin für Kerzen und heilige Gefäße, Spendensammlerin, Aufseherin (in sozialen Gesellschaften), Hofjüdin, Fürsprecherin, Lehrhaushalterin und Frau des Rabbiners, Hebamme, Therapeutin, Klageweib, Kauffrau und Magd. Die Grenze zwischen Beruf und Beschäftigung war nicht immer eindeutig bei Frauen, da sie diese Berufe nicht immer akademisch gelernt haben, sondern eher durch Erfahrung im Alltagsleben. Nicht immer haben sie auch Geld mit ihren Berufen verdient, da sie diese Berufe in der Gemeinde ausüben sollten, um die jüdische Gesellschaft und all ihre Komponenten kontinuierlich zu erhalten. Das FM bezeichnet auch verschiedene Institutionen der Gemeinde, wie z.B. Synagoge, Lehrhaus, Schule, Jeschiwah, Gerichtshof, Miqweh und Friedhof. Erstaunlich ist die Anzahl der erwähnte Frankfurter Vereine, wie z.B. Beerdigungsgesellschaft (Chewrah Qaddischa) der Totengräber / der Wohltäter / für Krankenbesuche, Gesellschaft für die Ausstattung der Braut (Hakhnassat Kallah), Gesellschaften für Mizwot (Gebote), Gesellschaften für die Ausübung von Zdaqah (Wohltätigkeit) und Chessed, Gesellschaften für gute Dinge, Frauengesellschaft, Holzverteiler-Gesellschaft, Gesellschaften des Studiums (Gesellschaft für das Lernen der Torah / Schass / Bibel, Gesellschaft, die Torah-Lernende unterstützt, Gesellschaft, die feste Zeiten für das Studium der Torah am Mittag gestellt hat, Gesellschaften für gemeinsames tägliches Studium, Gesellschaft, die Lehrer für Jungen angestellt hat). Aus dem FM kann man lernen, wie es sich auf die Krankheit und das Leiden (z.B. Quälerei und Blindheit) von Frauen und Männern bezieht. Im FM gibt es besondere Wünsche anlässlich des Todes (Testamenten, die mit Begräbnis, Bezahlung, Eintragung ins Memorbuch, Minjan usw. zu tun haben) und die Erwähnung der posthumen Verleihung von Ehrentiteln (Semikhah zu Chawer, Lehrer, Rabbiner, Meister). Die Bedeutung dieser Forschung ist pionierhaft in der Forschung der Memorbücher innerhalb des Fachs Jüdische Studien und außerhalb in der Forschung der Geschichte der Frühen Neuzeit. Erstmalig wird hier ein Memorbuch nicht mehr als Nebenquelle benutzt, um eine Auskunft über bestimmte Personen zu erhalten, die dort erwähnt sind. Man benutzt hier das Memorbuch auch nicht mehr als Hilfsquelle für die Forschung jüdischer Friedhöfe. Hier erhält das Memorbuch endlich die Ehre, die es seit dem Mittelalter verdient hat. Diese Forschung beweist zum ersten Mal überhaupt, dass und wie man das Memorbuch als eine wertvolle Quelle für die Forschung von Sozialgeschichte und Alltagsleben betrachten kann. Die Forschung zeigt uns, wie verbunden miteinander der Tod und das Leben sind. Sie lehrt von der Verstorbenen-Auskunft über die Lebenden in dieser Gemeinde und zeigt erstmalig, wie bedeutungsvoll, lebendig und reich das Leben der Juden in Frankfurt gemäß dem FM in der Frühen Neuzeit war. Die Dissertation erforscht ein Memorbuch zum ersten Mal in „modernen” Konnotationen. Das Memorbuch ist nicht kopiert, übersetzt und ediert, sondern computerisiert und im Zusammenhang mit neuen Forschungsrichtungen von jüdischer Kodikologie, Geschichte des Alltagslebens und Gender bearbeitet. Diese Art von Forschung erfährt ein besonders großes Interesse sowohl in der Forschung von Memorbüchern als auch in jüdischer Genealogie. Außerdem hat diese Forschung auch dazu geführt, dass ein Memorbuch erstmalig überhaupt durch die Hebräische Universität in Jerusalem digitalisiert ist (http://jnul.huji.ac.il/dl/mss/heb1092/frankfurt_page_index.htm). Es bleibt der Wunsch, dass diese Forschung noch ihre Bedeutung und Wichtigkeit in verschiedene Richtungen entwickeln wird. Dadurch wird diese Forschung auch ihr Ziel erreichen. Sie kann in die Forschung des Genres Memorbuch neue erfrischende Forschungs-Methoden bringen und es kann dazu bestimmt führen, dass in den kommenden Jahren viele Projekte diese Forschung als Muster betrachten werden.